Kein Wohnungsbau ohne Flächenfraß: ein Artikel vom – Elbe Wochenblatt
Interview mit Jörg Knieling, Stadtplaner an der HafenCity Universität Volker Stahl, Hamburg
Der Trend zu Verstädterung und Ein-Personen-Haushalten hält
an: Großstädte haben wieder Zulauf, Metropolen wie Berlin, München und Hamburg sind insbesondere von gut verdienenden Singles begehrt. Hinzu kommen Zehntausende Flüchtlinge, die eine Unterkunft benötigen und untergebracht werden müssen. Hamburg wird also wachsen und muss deshalb mehr
Grund und Boden für die geplanten 10.000 neuen Wohnungen pro Jahr bereitstellen. Nur für den Wohnungsbau werden 67 Hektar, darunter viele Grünflächen, benötigt. Ebenfalls
jährlich!
In den kommenden anderthalb Jahrzehnten werde die
Bevölkerungszahl Hamburgs von 1,8 auf 1,9 Millionen wachsen, mittelfristig werde die Zahl der Haushalte um 70.000 steigen, langfristig benötige Hamburg sogar 150.000 neue Wohnungen, rechnete
Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) kürzlich vor. In Anbetracht explodierender Mieten und Preise für Wohnungseigentum herrscht quer durch die politischen Lager Einigkeit
darüber, dass mehr gebaut werden muss. Nur so könne den Menschen, die in die Stadt strömen oder bereits in ihr wohnen, ausreichender und erschwinglicher Wohnraum zur Verfügung gestellt werden.
Der rot-grüne Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hat auf die Entwicklung reagiert und mit der Neuauflage des „Bündnisses für das Wohnen“ für die 21. Legislaturperiode die Zielmarke der zu
errichtenden Wohnungen von jährlich 6.000 auf 10.000 Wohnungen hochgeschraubt.
Im Gespräch mit Elbe Wochenblatt-Mitarbeiter Volker Stahl
erklärt Professor Jörg Knieling, welche Flächen unter Tabu stehen sollten und welche sich zur Bebauung eignen. Der 51-jährige Wissenschaftler ist Leiter des Fachgebiets Stadtplanung und
Regionalentwicklung an der HafenCity Universität Hamburg.
Herr Professor Knieling, Hamburg wächst: weniger Grün, mehr Beton. Wird die Hansestadt grau?
Jörg Knieling: Generell kann Hamburg als grüne – und blaue –
Stadt bezeichnet werden, da sie einen hohen Anteil an Freiräumen hat, vor allem Landwirtschafts-, Erholungs-, Wald- und Wasserflächen. Aufgrund des Drucks auf dem Wohnungsmarkt und der aktuellen
Zielsetzungen des Senats, 15 Jahre lang jährlich 10.000 neue Wohnungen zu errichten, kommt es allerdings zu Konflikten bei der Frage der Flächennutzung.
Es besteht die große Gefahr, dass die Belange des Natur- und
Landschaftsschutzes diesem politischen Ziel zum Opfer fallen. Damit gefährdet Hamburg vielfältige Leistungen der Freiräume, etwa
Natur- und Artenschutz, wohnungsnahe Erholung und Freizeit
sowie gutes Stadtklima. Aber diese Qualitäten sind ein entscheidenden Standortfaktor für die Hansestadt. Das Problem ist, dass einmal verlorene Freiräume, insbesondere Grün- und Erholungsflächen,
langfristig verloren wären und diese Entwicklung kaum umkehrbar ist.
Ist der vom Senat angedachte Natur-Cent ein geeignetes Instrument zur Rettung von Grünflächen?
Knieling: Nein, da das dadurch eingenommene Geld verloren
gegangene Freiräume nicht ausgleichen kann (siehe Kasten rechts). Oftmals dient es lediglich dazu, bereits bestehende Grünflächen aufzuwerten, es werden aber kaum neue Freiräume und
Grünstrukturen angelegt. Nachverdichtung und Entwicklung bedeutet allerdings nicht zwangsweise ein graueres Hamburg, vielmehr kann in die neuen Gebäude Grün integriert werden durch Dachgärten
sowie Dach- und Fassadenbegrünung. Gute Beispiele sind das Hochhaus Bosco Verticale in Mailand und der Dachpark Vierhavenstrip in Rotterdam.
In Hamburg werden künftig jährlich 67 Hektar als Bauland ausgewiesen. Welche Flächen sollten unter Tabu stehen, welche
nicht?
Knieling: Tabuflächen für die Ausweisung von Bauland sollten
sein: Natur- und Landschaftsschutzgebiete, aus Sicht des Klimawandels bedeutsame Flächen, überschwemmungsgefährdete Bereiche, Schneisen für Kalt- und Frischluftentstehung und -transport, wie
Grünachsen oder grüne Ringe, Freiräume, Grün- und Erholungsflächen in bereits stark verdichteten Bereichen sowie Kleingärten. Als Bauland geeignet sind Brachflächen aus Industrie- und
Gewerbenutzung, Industrie- und Gewerbeflächen mit Nutzungen, die verlagert werden können – zum Beispiel Logistik – , Verkehrsflächen, die bei geänderter Mobilitätspolitik zurück-gebaut werden
können, und Flächen im Umland von Hamburg, die durch den schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr angebunden sind.
In welchen Stadtteilen sehen Sie die größten Flächenpotenziale?
Knieling: Da die Bebauungsdichte von der Kernstadt zum
Stadtrand zumeist abnimmt, werden die größten Flächenpotenziale in den Stadtteilen in Richtung Stadtrand liegen, also in der so genannten Urbanisierungszone und den äußeren Stadtteilen. Aber auch
hier ist das Potenzial abhängig von der bestehenden Struktur, den Grundstückszuschnitten und natürlich den Eigentumsverhältnissen.
Sind Kleingärten angesichts des Wohnungsmangels in der inneren Stadt noch zeitgemäß?
Knieling: Kleingärten sind wichtige Ergänzungsflächen zum
verdichteten Wohnungsbau. Sie bieten gerade für Mieterinnen und Mieter die Möglichkeit, ergänzende Grün- und Freizeitflächen zu nutzen. Damit tragen sie in einer Großstadt wie Hamburg wesentlich
zur Wohn- und Lebensqualität bei.
Können Hochhäuser in Hamburg das Wohnungsproblem lösen?
Knieling: Hochhäuser stellen keine Problemlösung dar, da sie
mit einer Vielzahl von Folgeproblemen verbunden sind. Für eine sozial orientierte Bebauung sind vier- bis fünfgeschossige Gebäude der ideale Verdichtungstyp, aus Gründen des Lärmschutzes und der
Naherholung möglichst in Blockrandbebauung.
Was halten Sie vom Bau von Einfamilienhäusern?
Knieling: Laut den bezirklichen Entwicklungsplänen sind in
diesem Segment mehr als 7.000 Einheiten geplant. Diese Wohnform ist heute aus verschiedenen Gründen, vor allem wegen des hohen Flächenverbrauchs, nicht mehr zeitgemäß für eine Großstadt wie
Hamburg. Bei Neuentwicklungen sollte vielmehr vor allem auf Mehrfamilienhäuser gesetzt werden. Anstelle des Wohnens im Einfamilienhaus sollten attraktivere Wohnformen im verdichteten Wohnungsbau
entwickelt werden. Dass dies möglich ist, zeigen zahlreiche Beispiele aus Deutschland und den Nachbarländern.
Viele Mieterhaushalte werden durch die hohen Mieten aus der inneren Stadt verdrängt. Ist diese Entwicklung
unaufhaltsam?
Knieling: Die Frage muss lauten: Wem gehört die Stadt? Die
Antwort: Der gesamten Bevölkerung! Entsprechend hat die Politik die Aufgabe, für jede Bevölkerungsgruppe ein bezahlbares Leben in der Stadt zu ermöglichen – und dies auch in attraktiven Lagen.
Hierbei geht es vor allem darum, denjenigen bezahlbare Wohnungen anzubieten, die sich die immer höheren Mietpreise nicht mehr leisten können. Wird zu wenig eingegriffen, bestimmt der Markt das
Geschehen. Für Hamburg ist es deshalb unerlässlich, dass die Stadt über den öffentlichen Wohnungsbau, unter anderem über die SAGA, stärker selbst als Anbieter von Wohnraum auftritt und mehr
Wohnungen baut.
Was ist der Natur-Cent?
Wie dramatisch die Lage auf dem Wohnungsmarkt zurzeit ist,
verdeutlicht der Ausspruch des grünen (!) Senators für Umwelt und Energie, Jens Kerstan, der sich durchaus vorstellen kann, „auch mal einen Acker im Landschaftsschutzgebiet für den Wohnungsbau
freizugeben“. Für solche Äußerungen wäre ein grüner Entscheidungsträger früher von der Basis wüst beschimpft worden. Heute hört man allenfalls ein Murren, denn auch die grünen Wähler spüren, dass
sie immer mehr Geld fürs Wohnen in der Großstadt ausgeben müssen und nur neue Wohnungen den Markt entspannen können.
Kerstan weiß aber auch, dass sich vor dem Hintergrund steigenden Flächenbedarfs für den notwendigen Wohnungsbau viele Hamburgerinnen und Hamburger große Sorgen machen, dass die grüne Lunge
unserer Stadt durch beschleunigten Flächenverbrauch verloren geht. „Das nehmen wir als Senat ernst“, sagt Kerstan, „aber Hamburger Familien brauchen bezahlbaren Wohnraum.“ Aber eben auch
Grünflächen, auf denen Kinder spielen können, und Orte zum Durchatmen. Aus diesem Grund will der Senat in Hamburg den sogenannten „Natur-Cent“ einführen. Wenn auf einem Baugrundstück neue
Wohnungen entstehen, werden zum Ausgleich Mittel freigemacht, um Grünflächen an anderer Stelle aufzuwerten und besser zu pflegen. VS